Bikulturelles Familienleben - ein starkes Stück

Valentina Veneto Scheib

Valentina Veneto Scheib ist Italienerin mit bikultureller Herkunft: ihre Eltern kamen aus Regionen Italiens (Nord und Süd), die historisch sehr verschiedenen kulturellen Einflüssen ausgesetzt waren und noch heute im Alltag dadurch geprägt sind. Durch ihre Heirat mit einem Deutschen setzt Valentina Veneto Scheib die bikulturelle Tradition ihrer Familie fort, angereichert um den Aspekt der Zweisprachigkeit und der deutschen Staatsangehörigkeit. Sie arbeitet als Psychotherapeutin mit binationalen/bikulturellen Familien und Paaren.

In einem Straßenbild wie z.B. in Frankfurt am Main, mit einem Ausländeranteil von ca. 30 %, fällt überhaupt nicht mehr auf „wer was ist“: Das Bild ist bunt, die Vielfalt gehört auch im Umgang miteinander schon lange zur Normalität. Das macht für mich diese Stadt attraktiv und liebenswert.

Die Erfahrungen sind jedoch so verschieden wie die Menschen auch

Oft wirken bikulturelle Familien und ihre Mitglieder als Individuen irritierend auf die Umgebung. Diese Irritation bedeutet, dass es schwierig bis unmöglich ist, bikulturelle Familien mit einem Etikett zu versehen und in einer (Denk-)Schublade einzuschließen. Bikulturelle Familien widersetzen sich schon aufgrund ihrer Zusammensetzung sämtlichen Versuchen, sie schablonenhaft zu betrachten und zu definieren. Damit stellen sie für Menschen, die mit komplexeren Realitäten aus intellektuellen oder auch aus machtpolitischen Gründen überfordert sind und zur Vereinfachung neigen, eine "Provokation" dar.

Spezifische Stärken und Stolpersteine

Aus ihrer Zusammensetzung ergeben sich für bikulturelle Familien einige spezifische Stärken und Fähigkeiten: Sie können sich in der Regel in zwei oder mehr Sprachen gut verständigen; sie kennen aus Erzählungen und Lektüre oder auch aus direkter Erfahrung die Lebensart, die Normen, Werte und Traditionen eines anderen Landes; sie üben im täglichen Miteinander Offenheit, Verständnis, Flexibilität und Wertschätzung für eine andere Kultur, die vom Partner verkörpert wird; darüber hinaus stimulieren sie täglich ihre Kreativität auf der Suche nach guten Kompromisslösungen, um kulturell geprägte unterschiedliche Vorstellungen von Geschlechterrollen als Mann und Frau, von Erziehung, von Pflege der familiären und sonstigen sozialen Beziehungen vereinbar zu machen.

Natürlich ist das Familienleben nicht frei von Stolpersteinen.

Zunächst wird bikulturellen Paaren mit einem deutschen und einem ausländischen Partner, der neu eingewandert ist, eine Komplementarität oder Ungleichheit in der Beziehung aufgezwungen, die oft gar nicht gewollt ist. Sie resultiert aus ersten sprachlichen und Orientierungsschwierigkeiten sowie aus gesellschaftspolitischen Problemen. Es geht z. B. um die fehlende oder nur partielle Anerkennung von Bildungsabschlüssen, um die oft geringe Wertschätzung der beruflichen Erfahrungen und der sonstigen Kompetenzen des ausländischen Partners. Dieser erlebt dadurch einen Statusverlust und ist im Alltag abhängig von der Unterstützung des deutschen Partners.

Die unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Hintergründe erhöhen das Risiko von Missverständnissen und Konflikten - Sprache transportiert ja nicht nur Wörter, sondern auch kulturbedingte Deutungsmuster, Sinn- und Bedeutungssysteme, die man nur in Zusammenhang mit direkter Lebenserfahrung in einer Kultur erlernen kann. Erhöht ist in bikulturellen Familien auch der Bedarf an Informationsaustausch und der Bedarf an Aushandlung gemeinsamer Positionen. Es geht zum Beispiel um die Entscheidung, ob jeder Partner die eigene Muttersprache pflegen und an die Kinder weitergeben darf, oder ob die Sprache eines Elternteils bzw. eine dritte gemeinsame Sprache dominieren soll. Für diese Entscheidung ist die jeweilige Sprachkompetenz wichtig, damit eine korrekte und nuancenreiche Kommunikation über die Organisation des Alltags hinaus möglich ist.

Unterschiedliche Werte und Normen

Weitere spezifische Fragen in bikulturellen Familien beziehen sich auf die unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen, die je nach kultureller Prägung eher das Ziel der Anpassung an die Erwartungen und Normen der Familie und der Gemeinschaft (in traditionalen Kulturen) oder eher das Ziel von Individualismus (in modernen Industriegesellschaften) verfolgen. Auch bezüglich der unterschiedlichen Geschlechtsrollenerwartungen können Konflikte auf der Paarebene und in der Erziehung der Kinder entstehen: In manchen eher traditionalen Kulturen wird deutlicher als in der deutschen eine geschlechtsspezifische Erziehung gepflegt, die mit einer klaren Rollenteilung der Geschlechter im Erwachsenenalter korrespondiert. Der Umgang mit Sexualität, sexuelle Aufklärung, Sport- und Freizeitkontakte zwischen den Geschlechtern im jugendlichen Alter wird in verschiedenen Kulturen unterschiedlich frei gelebt und geregelt.

Ein weiterer wichtiger Fragenkomplex für bikulturelle Familien bezieht sich auf die konkrete Gestaltung von verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen. Unter anderem führen die kulturspezifischen Traditionen und Gewohnheiten zu unterschiedlich starken Bedürfnissen nach Nähe und Distanz, nach verantwortlicher Solidarität mit der erweiterten Familie, nach Spontaneität in der Gestaltung sozialer Beziehungen im Alltag (gemeinsam Feste feiern, spontane, zeitlich ausgedehnte Besuche, spontane Einladungen zum gemeinsamen Essen u. a. m.).

Die Möglichkeit, unterschiedliche Traditionen und Vorstellungen miteinander vereinbar zu machen steht und fällt mit der Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit aller Beteiligten. Denn am Anfang einer Beziehung, wenn wir verliebt sind, sehen wir den Anderen nicht so, wie er ist, sondern - unbewusst - so wie wir ihn sehen möchten. Der Mensch, der unser Herz schneller klopfen lässt wird zur Projektionsfläche für unsere unbewussten Wünsche, Ängste und Träume. Oft läuft ein ausländischer Partner Gefahr, unsere kulturell klischeehaften Vorstellungen verkörpern zu müssen, damit wir durch ihn eigene Wünsche oder Seiten erleben können, die wir uns selbst nicht zutrauen. Erst im Laufe der Zeit lernen wir, den Partner klarer zu sehen und damit auch seine kulturelle Prägung. Das geschieht nicht von selbst, sondern es bedarf einer offenen, aufmerksamen Haltung, Nachdenken und vielen, vielen Gesprächen mit Fragen zu den Denkweisen, Normen und Wertvorstellungen, zu den Gepflogenheiten und Traditionen in der eigenen und in der jeweils anderen Kultur. Und es verlangt viel Mut, eigene kulturell geprägte Vorstellungen in Frage zu stellen und zu relativieren, sowie einer klaren Entscheidung zur Gleichberechtigung und zur Wertschätzung beider Kulturen.

Wichtig sind Offenheit, Toleranz und gemeinsam definierte Vereinbarungen

Es lassen sich nicht alle Unklarheiten, Unsicherheiten und Widersprüche beseitigen, aber so ist das Leben nun mal! Wichtig sind Offenheit, Toleranz, klar und gemeinsam definierte Vereinbarungen, Flexibilität, Kompromissbereitschaft beider Partner, Kreativität auf der Suche nach Problemlösungen jenseits des berühmten, einengenden "Entweder-Oder". Kulturbewusstsein ist unter anderem wichtig, damit wir bei Problemen und im Konfliktfall nicht in die Falle tappen, individuelle Probleme als stereotype, kulturspezifische Probleme zu deuten bzw. kultur- und migrationsbedingte Probleme zu persönlichen Problemen des jeweils Anderen zu machen. Diese Falle lauert in jeder Begegnung zwischen verschiedenen Kulturen, sowohl innerfamiliär, als auch im Arbeitsbereich und in der Gesellschaft.

In einer bikulturellen Familie können Kinder früh anfangen, den Umgang mit solchen Problemen und Fragestellungen zu üben. Die größere Offenheit für das Neue und Andere, die bikulturellen Familien in der Regel zu Grunde liegt, ist eine große Ressource für einen konstruktiven Umgang mit Verschiedenheit im Alltag.

Zu diesen konkreten Aspekten des Familienlebens kommen im Alltag der berufliche Bereich und der Bereich der unterschiedlich nahen Begegnungen in Nachbarschaft und Gesellschaft (Kindergarten, Schule, Behörden, Dienstleister etc.) hinzu. Überall befinden wir uns in einer Situation, die von verschiedenen kulturellen Werten und Normen sowie von unterschiedlichen kulturell beeinflussten gegenseitigen Erwartungen geprägt ist. Für die, die neu angekommen sind, besteht die größte Anstrengung darin, die vielfältigen neuen Erfahrungen zu deuten und eine Orientierung in der neuen Lebenssituation zu finden.

Neue persönliche "Landkarten"

Die bisherige eigene "Landkarte", bestehend aus einem System von Selbstverständlichkeiten, von erlernten Normen und Werten, von privaten und beruflichen zwischenmenschlichen Erfahrungen, bietet in einem neuen Land oder in der Partnerschaft mit einem Menschen aus einer anderen Kultur nicht mehr ausreichend Orientierung. Man wird unsicher, denn was einmal galt, gilt zum großen Teil nicht mehr. Man braucht eine neue "Landkarte" die man am besten selbst ausmalt, wenn auch mit Hilfe Anderer. Dafür benötigt man zuerst einmal Platz, d. h. die alte "Landkarte" muss ein wenig zurückweichen und einen Freiraum übrig lassen, damit man die neue entfalten kann.

Dann braucht man Offenheit und Neugierde für neue Eindrücke und Erfahrungen, damit man ganz unbefangen und möglichst frei von Vorurteilen alles Mögliche wahrnehmen, fragen und hinterfragen kann. Besonders wichtig sind Fragen über Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten, familiäre sowie gesellschaftliche Werte, verschiedene auch Sozialschicht-spezifische Normen, Traditionen, Deutungsmuster, typische Lösungsansätze für bestehende Probleme.

Es braucht viel Zeit für diesen Austausch in der Familie und außerhalb; es braucht auch Zeit, um über das neu Erlernte in Ruhe nachzudenken, um die neuen Informationen sortieren, deuten und in Form von Farben und Namen auf der neuen "Landkarte" eintragen zu können.

Jeder, der mit "fremden Menschen" in der Partnerschaft oder im Beruf bzw. mit einem fremden Land konfrontiert ist, malt bewusst oder unbewusst seine neue "Landkarte", um sich in der neuen Situation zurecht zu finden. Es ist eine enorme Integrationsleistung, die Migranten und bikulturelle Familien damit Tag für Tag erbringen; dafür verdienen sie eine gebührende Anerkennung!

Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Kulturen bereichern jeden der Beteiligten, denn die Kommunikationsprozesse und die neuen Erfahrungsmöglichkeiten sind keine Einbahnstraßen, sondern beruhen auf Gegenseitigkeit. Sich für das Neue und Andere zu öffnen bedeutet nicht, das Bisherige zu verleugnen oder zu verlassen. Es entsteht mit der Zeit und mit den verschiedenen Begegnungen eine jeweils neue Mischung, da sich jeweils neue und andere Elemente begegnen, verknüpfen und mischen. Die angeblich separierten, homogenen Kulturen (z. B. die Deutsche, die Italienische, die Türkische usw.) sind eine Fälschung unter geschichtlichen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten.

Diese Fähigkeit, sowohl Eigenkulturelles als auch Fremdkulturelles zuzulassen und daraus zum Teil etwas Neues zu machen, flexibel und kreativ je nach Anforderung und Situation damit umzugehen ist eine sehr wichtige Voraussetzung für das Leben in einer bikulturellen Familie, bzw. in einer multikulturellen Gesellschaft. Transnational tätige Unternehmen haben es als erste erkannt und investieren zeitliche und finanzielle Ressourcen in großen Mengen für die Schulung der interkulturellen Kompetenz ihrer Mitarbeiter/innen.

Bikulturelle Paare und Familien leben vor, wie Internationalität und Globalisierung im positiven Sinne funktionieren können, und Ihre Kinder erwerben von Geburt an sprachliche, kulturelle und soziale Kompetenzen, die heute zunehmend gefragt sind. Ein bewusstes Leben mit unterschiedlichen Kulturen und "Landkarten", die Sicherheit im Umgang mit verschiedenen Orientierungssystemen, die Flexibilität beim Nutzen unterschiedlicher Normen und Referenzsysteme, die Wahrnehmung von Verschiedenheit und Vielfalt als interessante Herausforderung und Chance sind die Ressourcen, die bikulturelle Familien zu einem "starken Stück" machen. Oft fehlt es aber in zwischenmenschlichen Begegnungen an Verständnis, Wertschätzung und positiver Resonanz dafür sowie an orientierenden und haltgebenden Vorbildern. Deshalb sind Möglichkeiten des Miteinander - Seins mit anderen Paaren und Familien, die auch stolz sind, "ein starkes Stück" zu sein, besonders wichtig.