Bikulturelle Jugendliche zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

"Eure Kinder werden nie wissen, wohin sie gehören; sie werden kein Heimatgefühl haben, nirgendwo Wurzeln schlagen können, immer zwischen den Stühlen sitzen". Als binationale Eltern Anfang der siebziger Jahre begannen, öffentlich auf ihre besondere Familiensituation aufmerksam zu machen, haben sie sich das häufig anhören müssen. Damals gab es die Vorstellung von bikulturell aufwachsenden Jugendlichen noch nicht - sie waren die Kinder der Gastarbeiter und damit vorwiegend Objekte sozialpädagogischen Handelns. Und heute?

Die Gruppe der bikulturellen Jugendlichen ist hochdifferenziert. Kinder aus Familien mit einem deutschen Elternteil und Kinder aus Migrationsfamilien erfahren unterschiedliche Lebenswelten. Letztere sind wiederum zu unterscheiden nach Anlass und Ziel der Migration und dem sozialen Prestige des Herkunftlandes. Einerseits kann man den Eindruck bekommen, als habe sich in den vergangenen 30 Jahren nichts verändert. Überdurchschnittlich viele junge Menschen mit Migrationshintergrund erreichen keinen qualifizierenden Schulabschluss, suchen vergeblich einen Ausbildungsplatz und werden in sozialpädagogischen Maßnahmen "verwaltet". Andererseits begegnen wir jungen Erwachsenen, die das Pendeln zwischen den Kulturen zum - durchaus erfolgreichen - Programm gemacht haben: oft mit zwei Staatsangehörigkeiten, häufig mehrsprachig, bewandert in den Normen und Werten unterschiedlicher Lebenswelten, vertraut mit kulturellen Brücken und Brüchen. Sie gestalten ihren Alltag wie es Politiker/innen als "Modell der Zukunft" beschreiben: mobil, flexibel, mit hoher sozialer und kultureller Kompetenz.

Eine gesellschaftliche Anerkennung dieser spezifischen Fähigkeiten ist bisher jedoch ausgeblieben. Die Selbstverständlichkeit des gelebten bikulturellen (Familien)Alltags steht nach wie vor im Widerspruch zu der gesellschaftlichen Einordnung in "Wir" und "die Anderen". Annahmen und Haltungen von Politiker/innen wie pädagogischen Fachkräften in Bezug auf die Lebenssituation und Zukunftsperspektiven bikultureller Jugendlicher sind immer noch von einer Vorstellung geprägt, die "Integration" als Anpassungsprozess zwischen Herkunft (aus einem anderen Land) und Zukunft (im Einwanderungsland) versteht. Die Tatsache der Migration (wohlgemerkt: der Eltern oder sogar Großeltern) bleibt auch für die heutige junge Generation der Bezugspunkt, an dem ihre Chancen gemessen werden. Die Betonung der ethnischen Herkunft verstellt dabei den Blick auf die soziale Lebenslage und die damit einher gehenden Bildungsmöglichkeiten. Diese eindimensionale Sichtweise verkennt, dass die Qualifikationen, die bikulturelle Jugendliche im Laufe ihrer Bildungslaufbahn erwerben, für ein Pendeln zwischen Ländern und Kulturen geradezu prädestiniert. "Neuere Untersuchungen von Zukunftsvorstellungen Jugendlicher an der Schwelle zum Beruf zeigen solche Perspektiven: Jugendliche mit Migrationshintergrund beziehen die Möglichkeit eines mobilen Lebens in ihre Berufswünsche und -orientierungen mit ein. Dabei gehört die Frage, ob und auf welche Weise ihre familiensprachlichen Kompetenzen und die kulturellen Erfahrungen zum Wettbewerbsvorteil bei der Berufseinmündung werden können, zum Kalkül" (Gutachten der Bund-Länder-Kommission "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund", verfasst von Prof. Dr. Ingrid Gogolin u.a., Bonn 2003).

Wenn das eigene Lebensgefühl im Sowohl-als-Auch entsteht, ist die soziale Forderung des Entweder-Oder mehr als irritierend - ein Teil der Identität ist immer im Schatten, wird negiert oder kommt zumindest zu kurz. Aussehen, Kulturprestige, die aktuellen politischen Gewichtungen sind Faktoren, die die gesellschaftliche Akzeptanz der Bikulturalität entscheidend beeinflussen. Die Reaktionen der Jugendlichen darauf sind unterschiedlich: manche betonen ihr Anderssein bis hin zur Selbst-Ausgrenzung; andere versuchen, den fremdkulturellen Anteil ihrer Biographie zu verdrängen. Für die allermeisten ist es schwierig, in einem Alter, in dem die Suche nach Zugehörigkeiten vorrangiges Bedürfnis ist, Ausgrenzung zu erfahren, die von ihnen nicht beeinflusst werden kann. Eine Folge ist das beobachtbare Phänomen, dass viele Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund sich mehr mit ihrer ethnischen Herkunftsseite identifizieren als mit ihrer realen interkulturellen Lebenssituation, und dies auch dann, wenn sie in Deutschland geboren sind und das Land ihrer Eltern nur aus Urlauben kennen. Die Stigmatisierung als "Ausländer/in", gepaart mit rechtlichen Einschränkungen und sozialer Diskriminierung ist eine Konstante in ihrem Lebensgefühl. Dies ist die eine Seite.

Die andere entwickelt sich jenseits aller Klischees und gesellschaftlicher Zuordnungen. In der Clique sind Kleidung, Musik, Treffpunkte und das Wissen über die neuesten news die Kriterien für "drin" oder "draußen". Zwar spielt auch hier die ethnische Zugehörigkeit eine Rolle, doch kann mit den dazu gehörenden Macht-/Ohnmachtphantasien auch spielerisch umgegangen werden. Und allemal entscheidender ist der soziale Status: finanzielle Spielräume, Wohnviertel, Möglichkeiten und Orte des Lernens, Freizeitaktivitäten. Da nicht mithalten zu können ist eine schmerzhafte Erfahrung, die nicht selten dadurch abgewehrt wird, dass man den öffentlichen Erklärungsangeboten folgt: ich gehöre nicht dazu, ich kann nicht teilhaben - weil ich Türke (Marokkaner, Russlanddeutscher etc.) bin. Diese ethnische Selbst-Stigmatisierung kollektiviert die Ausgrenzungserfahrung und macht sie dadurch leichter erträglich. Doch damit schließt sich der Kreis in fataler Weise: in der Übereinstimmung von Fremd- und Selbstwahrnehmung als "Außenseiter" bleiben die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten auf der Strecke.

Dabei schafft eine Lebenssituation, die in kein (kulturelles) Schema reinpasst, durchaus Raum für etwas ganz Neues. Die frühe Aufgabe, sich mit fremdbestimmter Zugehörigkeit und Ausgrenzung beschäftigen zu müssen, fördert das Nachdenken über sich selbst -die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist eine wichtige Konstante in einer sich schnell verändernden Welt. Bikulturell aufwachsende Jugendliche haben bei entsprechender Unterstützung die Chance, durch die wechselnde Identifikation mit den kulturellen Prägungen ihrer Eltern und den Angeboten ihres aktuellen Lebensumfeldes eine Identität auszubilden, die mit unterschiedlichen Perspektiven spielerisch umgehen kann. Sie können früh lernen, die damit einher gehenden Konflikte als Normalität zu erleben und die Möglichkeiten und Grenzen von Kompromissbildungen zu erfahren. Sie entwickeln in der Regel wenig Berührungsängste gegenüber anderen kulturellen Traditionen und viel Erfahrung im Wechseln der Lebensformen- in Zeiten der Globalisierung ein ernst zu nehmender Vorsprung gegenüber ihren gleichaltrigen Zeitgenossen.

Ob bikulturelle Jugendliche stolz auf ihre Ressourcen sind oder sich als immer irgendwie defizitär fühlen hängt auch entscheidend davon ab, was für ein feed-back sie von Eltern und Lehrer/innen bekommen und wie sie sich im öffentlichen Diskurs repräsentiert fühlen. Dazu gehört die Anerkennung der Pluralität von Lebensformen und Heterogenität der Bevölkerungsgruppen auf allen Ebenen: in den Bildungseinrichtungen, in der Verwaltung sowie in der politischen Repräsentation.

Cornelia Spohn