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1.07.2021

Der Neunte Familienbericht – eine Auseinandersetzung aus migrantischer Sicht

Auszug der Rede von Chrysovalantou Vangeltziki, der Bundesgeschäftsführerin des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften, zum Themenblock 'Die soziale Lage von Familien mit Migrationshintergrund und familienpolitische Herausforderungen'.


Anlass der Rede war die Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen (AGF) in Kooperation mit der Sachverständigenkommission der Bundesregierung zum Neunten Familienbericht.

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Wer sind Familien mit „Migrationshintergrund“?

Der Familienbericht spricht zu Recht von einer wachsenden Vielfalt der Familien. Aber welche Familien sind damit genau gemeint? Teils wird von Zuwanderung gesprochen, teils von Familien mit „Migrationshintergrund“. In weiten Teilen des Berichts tauchen diese Familien nicht im Querschnitt aller Familien auf, nur in wenigen Kapiteln. Werden sie genannt, dann oftmals unter einem defizitären Blick. So als wäre Deutschland erst seit wenigen Jahren ein Einwanderungsland.

Wer sind diese Familien, die einen „Migrationshintergrund“ haben? Die Statistik weist aus, dass 25 % der Gesamtbevölkerung und damit fast jede vierte Person einen „Migrationshintergrund“ hat. Das bedeutet auch, dass 39% der Familien einen Migrationsbezug haben. Die Kinder in diesen Familien haben zu mehr als 2/3 die deutsche Staatsangehörigkeit.

Menschen und Familien mit eigener oder nicht eigener Zuwanderungserfahrung stellen somit einen erheblichen Bevölkerungsanteil, sie sind die sog. Aufnahmegesellschaft. Und das nicht erst seit 2015. Tendenz steigend!

Wozu dann der Begriff „Migrationshintergrund“? Einen Migrationshintergrund hat niemand mit Geburt, sondern er wird Menschen aus statistischen Gründen zugeschrieben.

Der Begriff suggeriert Homogenität. Richtig stellt der 9. Familienbericht fest, dass migrantische Familien vielfältig und divers sind. Man liest sogar von einer Superdiversität. Migranteninnen und Migranten sind alleinerziehend, sind von Armut betroffen, sie sind ohne Kinder, sie beschäftigen sich mit Themen der Partnerschaft und Kindererziehung, der schulischen und beruflichen Ausbildung, der Existenzsicherung oder der Gesundheit ihrer Kinder, sie haben hohe Bildungsaspirationen und wünschen sich, dass es ihren Kindern mal besser geht als ihnen. Normal eben.

Dieser Begriff hat für viele migrantische Familien eine stark stigmatisierende Wirkung. Es ist eine Fremdzuschreibung aufgrund der ethnischen Herkunft und der religiösen Zugehörigkeit. Man ist Nicht-Deutsch und man gehört nicht zu dieser Aufnahmegesellschaft dazu und damit wird man zu „Fremden“. Durch diese Fremdzuschreibung erfahren viele migrantische Familien rassistische Diskriminierung. Diese rassistische Diskriminierung geht sogar in der dritten, vierten oder fünften Generation weiter. Man wird das Wort „Migrationshintergrund“ einfach nicht los, auch wenn es nicht mehr statistisch erfasst wird.

Der Begriff „Migrationshintergrund“ eignet sich nicht, um den vermeintlichen „Integrationsbedarf“ von migrantischen Familien zu eruieren, dies zeigt uns gerade die Heterogenität von migrantischen Familien. Das Wort eignet sich nicht, die im Alltag erlebten Ausschlüsse oder Diskriminierungen sichtbar zu machen, die auf einer vermuteten Andersartigkeit wegen des Aussehens, des Namens oder eines Akzents beruhen.

„Integrationsbedarfe“, heißt Partizipation und Teilhabe, lassen sich weniger über die Migration als vielmehr über Soziallagen in Milieus erklären. Und gerade da sollte der politische Ansatz auch erfolgen.

Migrantische Familien, Prekarisierung und die „Verantwortung“ von Müttern

Der 9. Familienbericht setzt das Armutsrisiko der Familie in direkten Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit der Mütter. Ihr Anteil an der Erwerbstätigkeit von Frauen ist noch immer signifikant niedriger als bei nicht-migrantischen Frauen.

Migrantische Familien leben mit einem deutlich geringeren monatlichen Nettoeinkommen und sind daher stark armutsgefährdet. Bei mittlerem und höherem Bildungsabschluss verdienen migrantische Familien weniger als nicht migrantische Familien. Infolgedessen steigt die Armutsgefährdung sogar mit steigendem Bildungsstand.

Warum ist das so? Migrantische Frauen haben es erheblich schwerer, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Dies liegt aber nicht am Bildungsabschluss. Von 100 Frauen, die 2019 zugezogen sind, kamen 23 selbst zugezogen aus Drittstaaten, 39 aus der EU, davon 22 in Familiennachzug und 35 im Familiennachzug aus Drittstaaten. Viele dieser Frauen (60,3%) sind qualifiziert bis hochqualifiziert. Auch liegt es nicht am mangelnden Erwerbswunsch oder an der traditionellen Rollenverteilung. Viele migrantische Mütter wollen eigentlich sofort wieder arbeiten. Das zeigen die Erhebungen des Bundesfamilienministeriums.

Ursachen sind oftmals die Unkenntnis über die Möglichkeiten zur Anerkennung von Berufsqualifikationen, der Mangel an beruflichen und sozialen Netzwerken. Es ist die Schlechterstellung in der beruflichen Positionierung, die prekären Arbeitsvoraussetzungen, wie Teilzeit, Befristung oder Leiharbeit. Es ist die schlechtere Bezahlung für gleiche Arbeit im Vergleich zu nicht-migrantischen Frauen und Müttern. Es ist die rassistische Diskriminierung im Bewerbungsverfahren aufgrund des Namens, des Aussehens oder der religiösen Zugehörigkeit und natürlich vor allem wegen des Geschlechts.

Bewerbungsverfahren müssen daher anonymisiert werden. Am Beispiel der Frauenbewegung ist die Einführung einer Migrante:innen-Quote schon längst überfällig. Diversity-Management und interkulturelle Öffnung sollten im Rahmen der Organisationsentwicklung fester

Bestandteil jedes wirtschaftlichen, gemeinnützigen oder öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers sein. Mitarbeiter:innen und Führungskräfte müssen zur diversitätsbewussten und rassismuskritischen Haltung in der Unternehmenskultur geschult und geleitet werden. Nur so kann gleichberechtigte Teilhabe und Partizipation am Arbeitsmarkt für migrantische Familien erfolgen, was zugleich „Raus aus der Armut“ bedeuten würde!

Familien und Spracherwerb der Kinder – welche Sprachen braucht es?

Der Familienbericht koppelt die Erwerbstätigkeit migrantischer Frauen mit dem Kitabesuch und dem Spracherwerb. Kinder aus migrantischen Familien spielten für den Spracherwerb ihrer Eltern eine zentrale Funktion. Die Kindertageseinrichtung soll dabei eine doppelte Integrationsrendite für Kind und Mutter haben. Je früher ein migrantisches Kind die Kita besuche, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit für seinen Bildungserfolg und eine erhöhte Arbeitsmarktbeteiligung…so zumindest die Fachleute.

Dabei wird insbesondere auf die 1- bis 3-jährigen Kinder geschaut, und hinterfragt, warum migrantische Mütter ihre Kinder zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr eher zu Hause betreuen als nicht migrantische Mütter.

Ein Grund ist die zuvor erwähnte prekäre Beschäftigungssituation. Migrantische Mütter entscheiden sich dadurch eher für eine Familienphase, auch wenn sie lieber arbeiten gehen würden.

Ein weiterer Grund ist auch der Erhalt der Familiensprache. Sprache ist ein symbolträchtiges Kommunikationsmittel, das mit kultureller und persönlicher Identität zusammenhängt. Familiensprache, also nicht die deutsche Sprache, wird oft in Bildungseinrichtungen nicht sichtbar und nicht hörbar gemacht. Familiensprache wird von Erzieher:innen und Lehrer:innen mitunter verboten. Es wird somit der migrantischen Familie vermittelt, dass die Familiensprache weniger wert ist, sogar hinderlich für den Bildungserfolg ihres Kindes sein kann. Dabei wird aber verkannt, dass ein Teil der kulturellen Identität verloren geht. Die Kommunikation mit den eigenen Großeltern bspw. ist nicht mehr möglich. Die positive Emotionalität zwischen Eltern und Kindern kann sogar gefährdet sein.

Manche Kinder erfahren sehr früh, dass einige Familiensprachen, wie Arabisch, Griechisch oder Türkisch, gesellschaftlich nicht anerkannt sind. Einige Kinder reagieren dabei mit dem Verlust ihres Selbstwertgefühls.

Kitas müssen endlich die frühe mehrsprachigkeitsoffene Bildung anwenden. Eine mehrsprachigkeitsoffene Bildung beinhaltet eine qualitätsvolle alltagsintegrierte sprachliche Bildung. Die Familiensprache wird respektvoll anerkannt. In Kita bedeutet es, dass die Erzieher:innen alle Familiensprachen der Kinder aktiv wertschätzen. Nicht erforderlich ist, dass die Erzieherinnen, diese Sprachen sprechen oder auch anbieten. Wichtig ist vor allem eine Offenheit gegenüber allen Sprachen und gegenüber allen Kulturen, damit eine Verbundenheit da ist. Nur so wird man Eltern und Kinder zugleich erreichen können.

Die Erwartungshaltung an migrantische, zugewanderte Eltern ist auch in der Schule sehr hoch. Eine Bildungspartnerschaft auf Augenhöhe kann aber nicht funktionieren, wenn die Eltern in der ständigen Bringschuld stehen. Den Familien fehlt das Wissen über die Zusammenarbeit von Eltern, Kind und Schule. Welche gegenseitigen Erwartungen bestehen? Wie sind Elterngespräche und Elternabende einzuordnen? Eigene Erfahrungen in den Herkunftsländern helfen dabei nicht weiter. 

Präventive Hilfe- und Bildungsangebote für migrantische Familien sind unterrepräsentiert. Die bereits bestehenden Angebote sind nicht auf spezielle Bedürfnisse und Erfordernisse dieser Zielgruppe zugeschnitten. Die migrantischen Familien erreichen somit nicht die Angebote, die sie brauchen.

Hilfe- und Beratungsangebote müssen sich stärker migrations- und diversitätssensibel ausrichten. Z.B. durch mehrsprachige Kommunikations- & Beratungsmöglichkeiten, divers zusammengesetzte Teams, mehrsprachiges Infomaterial, Einbeziehung von Dolmetscher:innen und Sprachmittler:innen, gezielte Förderung von diversitäts- und migrationsbezogenen Kompetenzen aller Mitarbeiter:innen durch Fortbildungen und Supervisionen. Diese Angebote sollten wohnortnah und sozialraumorientiert mit flexiblen Öffnungszeiten sein. Kindertageseinrichtungen, Schulen, Arztpraxen, internationale Familienzentren und Migrant:innennselbstorganisationen eignen sich dafür, migrantische Familien zu erreichen.

Familie als Integrationsmotor – wer gehört zur Familie?

Der 9. Familienbericht stellt richtig fest, dass die Familie der Integrationsmotor ist. Das Interesse und die Motivation am deutschen Spracherwerb werden gestärkt, wenn die eigene Partnerin oder die eigenen Kinder vor Ort sind. Man erfährt Schutz, Geborgenheit und gegenseitige Unterstützung durch das solide Band der Familie. Migrantische Familien haben vielfach eine große familiäre Verbundenheit. Die erweiterte Familie, bspw. wie Geschwister, Großeltern, Onkel oder Cousine, werden in die familiäre Verbundenheit einbezogen. Die Netzwerke dieser Familien sind sehr familienzentriert.

Der 9. Familienbericht weist zutreffend daraufhin, dass die derzeitige Ausgestaltung des Familiennachzugs, Auswirkungen auf die psychische Belastung für die getrennten Familienmitglieder hat und damit zu Lasten ihrer Gesundheit geht. Das Kindeswohl ist sogar gefährdet, wenn Eltern und Kinder gegen ihren Willen getrennt sind. Der Familiennachzug ist aber nicht nur für Fachkräftegewinnung und für Geflüchtete von enormer Bedeutung. Er muss auch für binationale Paare transparenter und unbürokratischer möglich sein. Das bedeutet nicht nur die Verkürzung der Visaverfahren und die Abschaffung des Sprachnachweises vor Einreise. Es bedeutet auch, dass endlich ein erweiterter Familienbegriff angewandt wird. Dies erleichtert Besuche, auch für längere Dauer, für viele Familienangehörigen.

Familien sind der Schlüssel zum gesellschaftlichen Anschluss und damit zur chancengerechten Teilhabe und Partizipation. Das Recht auf Familie ist ein Menschenrecht. Artikel 6 Grundgesetz stellt die Familien unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Und doch sind nicht alle Familien gleich unter den Schutzmantel des Staates zu finden. Bislang folgen der Familiennachzug und die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen in Deutschland ordnungs- und sicherheitspolitischen Vorgaben. Realität ist: Ordnungsrecht bricht Familienrecht. Aber Familien stören weder die Ordnung noch die Sicherheit in unserem Land.