21.03.2020

Die Welt dreht sich anders seit dem 19. Februar 2020

Hanau und die Zeit danach. In diesem Beitrag erzählt die Hanauerin Jean E. was die rechtsextremistische Tat in Hanau für sie und ihre Familie bedeutet.


Demonstration Hanau Terroranschlag

Es sollte ein neues, leichteres Jahr werden. Wir stießen mit perlendem Sekt auf ein gutes neues Jahr an, aßen mit meiner türkischen Schwiegermutter die leckersten Speisen und ließen Flying Wishpaper an die Wohnungsdecke fliegen. Die Wünsche waren klassisch: Gesundheit, Glück, Frieden…

Alles startete gut, bis der 19. Februar kam… Bereits am Abend der Tat bekam ich über eine Eltern-Whatsappgruppe die Nachricht „Bleibt bitte zuhause, ein Irrer fährt durch Hanau und schießt auf Menschen“. In Hanau? Schoß es mir durch den Kopf. In meiner Heimatstadt? Wo genau? Mist, in dem Stadtteil ganz in der Nähe. Wer war das? Ich ertappte mich bei dem Gedanken: Ein Islamist?

Ich verfolgte noch stundenlang die Meldungen, die ich über verschiedene Kanäle abrufen konnte. Eine Shishabar und ein Kiosk in Kesselstadt – dort wo die Migrationsdichte sehr hoch ist. Mir lief es kalt den Rücken herunter… Am Morgen stand es fest: es war ein rassistischen Terrorakt von einem sogenannten Biodeutschen. Er schoss auf Menschen, weil sie nicht dem entsprachen, was er als richtig und normal angesehen hat. Er schoss kaltblütig und mit Hass auf Menschen, die einfach nur in diesem Moment an diesen Orten waren. Er schoss auf Menschen, die meine Familie und meine Freunde hätten sein können. Mein Mann, mein Onkel, mein Kind – allein, weil sie türkische Familienwurzeln hatten.

Ich stand die nächsten Tage neben mir. War aber auch überrascht über die Solidarität der Menschen in Hanau, auch von Gruppen von „Biodeutschen“, denen ich dieses Mitgefühl nicht zugetraut hatte. Ich weinte viel, immer dann wenn meine Tochter es nicht mitbekam. Ich empfand es als Wohltat, dass von einem rechten Terrorakt gesprochen wurde. Denn das, was an diesem Abend in Hanau passierte, ist ein Terrorakt gegen die Menschlichkeit, die Menschenwürde und all dem, was demokratische Kräfte verteidigen. Es war eine Zäsur in unserem Leben – und dieses Mal nicht nur von außen, sondern mitten in unser Familienleben als bikulturelle Familie, die einen türkischstämmigen Mann und Vater hat und liebt. Ich habe so viel durch meine bikulturelle Ehe gelernt. Habe mich entwickelt, geöffnet und verändert. Ich habe gelernt, Kompromisse wirklich als Aushandeln und Abwägen und Auchmalstehen-Lassen zu nutzen. Ich habe die Liebe und Solidarität der „Community“ erfahren – in Todesfällen, auf Hochzeiten, bei religiösen Festen. Ich fühle mich akzeptiert, respektiert und getragen. Die Denke des Täters ist mir so unendlich fremd. Ich erlebe es immer wieder im Alltag, dass Menschen wenig oder keine Berührungspunkte mit Migrantenfamilien haben. Gerade in Kleinstädten und deren Umgebung. Da sind die Vorurteile sehr lebendig. Auch hier fehlt es an Begegnungen, um Vorurteile abzubauen. Und jetzt in der Covid-19-Krise noch mehr…

Mein Kind weiß bis heute nicht, dass es diesen Vorfall in ihrer Heimatstadt gegeben hat. Wie soll ich ihr erklären, dass es Menschen gibt, die so voller Hass sind, dass sie andere unschuldige Menschen töten. Wie könnte ich ihr die Angst nehmen, dass ihr Papa getötet werden könnte – nur weil er so aussieht, wie er aussieht? Und wie soll ich sie stark machen gegen diese Menschen? Gegen Rassisten? Gegen Menschen, die ihr das Gefühl geben werden, sie ist anders und gehört nicht wirklich dazu?

Die Trauerbewältigung ist durch das Covid-19-Virus jä gestoppt worden. Es schmerzt, dass wir hier nicht weiter gemeinsam um die Opfer trauern können und vor allem, dass wir uns nicht begegnen können. Das wäre jetzt so wichtig. Menschen hinter einem Label kennenlernen. Durch diese weitere Zäsur unseres Lebens, gerät die Tat in den Hintergrund. Das ist verständlich, aber es ist nicht gut. Wir dürfen die Tat vom 19. Februar nicht vergessen und auch nicht relativieren. Es macht mich wütend, wenn offizielle Stellen das nun versuchen und das Rechtsextreme der Tat absprechen. Und es ist so unendlich wichtig, dass wir ganz bald wieder ins Gespräch kommen und weiter machen, mit dem solidarischen „Es waren keine Fremden und Hanau steht zusammen“. Die Kontaktarmut durch Corona belastet Familien – ob bikulturell oder nicht-bikulturell. Aber die Menschen in Hanau – die Brüder, Söhne, Schwester, Tochter verloren haben, trifft es doppelt schwer. Das Jugendzentrum in Fußnähe des zweiten Tatorts ist geschlossen, die Plätze sind leer. Die Menschen leiden still und ungehört. Ich hoffe sehr, dass wir es schaffen, beides emotional zu überleben: Covid-19 und die Tat vom 19.Februar 2020. Und ich wünsche mir so sehr, dass beides auch etwas Gutes bewirkt: ein demokratisches, solidarisches, achtsames, respektvolleres und zugewandertes Miteinander – nicht nur in Hanau.

Wir sind eine deutsch-türkische Familie, die die Vielfalt lebt und liebt. Wir haben eine Tochter und haben den Schritt von einer Großstadt in eine Kleinstadt gewagt. Begrüßt wurden wir von einem neuen Nachbarn mit einer gehissten Deutschlandflagge. Durch viele Begegnungen haben wir es geschafft, dass man gerne miteinander redet und schon lange keine Flagge mehr im Vorgarten hängt. Das, was im Kleinen funktioniert, kann auch im Großen funktionieren. Wir müssen nur weitermachen und daran glauben, dass Vielfalt unsere Zukunft ist!

 

Jean E.